FAQs
1. In welcher Weise unterstützt der Einsatz der ICF inklusives Handeln und Denken der Fachkräfte
Die ICF versteht Behinderung (siehe Bundesteilhabegesetz) vereinfacht dargestellt als Wechselwirkung zwischen einer Person und ihrer Umwelt (inklusive relevanter Einstellungen wichtiger Bezugspersonen“
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“
Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG), 2016, §2.1)
Indem das gemeinsame Arbeiten mit der ICF im ersten Schritt auf die Erfassung von jeweiligen Umweltbedingungen eines Menschen als Förderfaktoren oder Barrieren abzielt, ist die ICF als Instrument inklusiven Handelns zu verstehen. Inklusion wird dabei als (umwelt)Systemeigenschaft gesehen, entsprechende Teilhabemöglichkeiten für ALLE Menschen zu ermöglichen.
Im KONKRETEN: sich als Fachkraft zuerst überlegen, inwieweit mögliche hinderliche Umweltbedingungen) verändert werden können, bevor „AM“ Kind gearbeitet wird.
2. Macht die ICF die Arbeit für Fachkräfte leichter?
Die ICF bietet ein ANDERES (weil übergeordnetes) Kategoriensystem zur Beschreibung eines Menschen (mit einem Gesundheitsproblem). Dieses Kategoriensystem unterscheidet sich dabei (je nach beruflichen Hintergrund) von den ERLERNTEN Begriffssystemen.
D.h. für die Fachkräfte geht es häufig um ein UMLERNEN erworbener Kategorien, was anfangs als Mehraufwand erlebt wird. Langfristig schildern jedoch die meisten Fachkräfte, dass die (als gemeinsame Sprache) eingeführten Kategorien eindeutiger und einfacher zu verwenden sind als die jeweils berufspolitisch erlernten.
Im KONKRETEN: Gehen Sie als Fachkraft davon aus, dass Sie nach einiger Übung mit der ICF auch in Ihren Förder- und Behandlungsplänen, Entwicklungsberichten, Ihrer Dokumentation und Evaluation schneller werden.
3. Wie lange braucht es, bis eine Institution (z.B. eine Schule) ihre Beschreibungsweise auf die ICF umstellt?
Das Erlernen eines neuen Denk- und Beschreibungssystems (wie es die ICF als gemeinsame Sprache darstellt), dauert Zeit (und braucht Ressourcen). Damit sind meist Grundschulungen, gemeinsames Üben und Feedbackschleifen nach Implementierung gemeint.
Generell ist für Institutionen (im Sinne eines wohldefinierten Projekts) mit einem Implementierungszeitraum von 1 bis 3 Jahren zu rechnen. Dies hängt auch von der Größe der Institution, deren fachlicher (multisektorieller Zusammensetzung, IT-Herausforderungen etc.) ab. Wichtig erscheint dabei die Möglichkeit des gemeinsamen Übens und Austauschens im Team bzw. den Eltern/Betroffenen.
Im Konkreten: Teams brauchen meist
1-2 tägige Grundschulungen
Übungsphasen mit Rückmeldemöglichkeiten (im Team oder mit externen Fachleuten)
Einen konkreten Implementierungsfahrplan von Seiten des Managements
Mindestens 1 Follow-Up Seminar nach einem Jahr
4. Sind die Betroffenen bzw. Erziehungsberechtigte in die Verwendung der ICF einzubinden?
Im Sinne eines „Teams um die Familie“ oder um den betroffenen Menschen ist es umungänglich, dass alle Teammitglieder (d.h. Eltern, Kinder, Menschen mit Behinderung ...) soweit wie möglich gleichberechtigt einzubeziehen sind.
Eltern und Kinder brauchen aber ein Grundverständnis, wie das Modell der ICF funktioniert. Das bedeutet nicht, dass spezielle Fachbegriffe verwendet werden müssen, sondern dass vermittelt wird, dass unterschiedliche Sichtweisen zusammengeführt werden: die Sichtweise der individuellen Persönlichkeit, der Umwelt, des Körpers und der Teilhabe und dass es generell das Ziel ist, sinnhafte Ziele gemeinsam zu entwickeln.
Dazu gibt es auch einige Hilfsmittel wie Tischvorlagen oder bewegliche Pyramiden, die Sie z.B. unter icf hilfsmittel pyramide tischvorlage - Bing images ansehen können. Hilfsmittel für Kinder sind z.B. in Form von Bildkarten verfügbar: Teil des Teams sein (O3) (icf-school.eu)
Generell erleben sich Eltern, die mithilfe der ICF in Planungsprozesse für ihre Kinder eingebunden sind, als ernst genommen und auf Augenhöhe mit den Fachkräften.
Im Konkreten:
Alle Beteiligten verwenden die ICF
Je heterogener Teams sind, desto befruchtender ist der gemeinsame Austausch mittels der ICF
Reine „Berufsteams“ (die Lehrer:Innen besprechen ein Kind gemeinsam mit den Eltern“, die Physiotherapeut:Innen entwickeln Coresets etc.) entsprechen dabei nicht der Philosophie einer gemeinsamen Sprache.
Optimalerweise werden zu Grundschulungen Eltern und Kooperant:Innen (Ärzt:Innen…) eingeladen.
5. Was bringt die ICF?
Die ICF ermöglicht eine gemeinsame Sprache, mit der sich unterschiedliche Akteur:Innen in einem Team verständigen (inklusive der Eltern). Mühsame Übersetzungsprozesse (was hat der Arzt gesagt?)
Durch diese gemeinsame Strukturierung von Informationen kann z.B. vermieden werden, dass Informationen doppelt und dreifach erhoben werden: Sie können durchaus fachspezifisch ergänzt werden, aber zeit- und energieraubende Dopplungen (jede Fachkraft neigt dazu, mit der Geburt und Schwangerschaft zu beginnen) können dadurch vermieden werden. Das spart auch Ressourcen.
Die ICF fokussiert auf Teilhabe, d.h. im optimalen Fall koordinieren sich Fachkräfte in Bezug auf (für das Kind und die Eltern) sinnvolle Teilhabeziele. Damit wird Förderung koordiniert (da im optimalen Fall ALLE beteiligten Teammitglieder (inklusive Eltern) GEMEINSAME Ziele gestalten.
Der Fokus auf Teilhabeziele schärft auch den gemeinsamen Blick auf die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit von Zielen. Somit ist langfristig auch eine Erhöhung der Teilhabe zu erwarten.
Im Konkreten:
Die ICF erleichtert die Verständlichkeit unterschiedlicher fachlicher Ansätze
Sie macht Eltern/Betroffene zu Mithandelnden in Unterstützungsprozessen.
Die ICF fokussiert auf sinnhaftes Tun von Menschen.
6. Müssen Fachkräfte dadurch ihre spezifische Fachlichkeit aufgeben?
Natürlich dürfen und sollen Ärzt:Innen, Psycholog:Innen, Pädagog:Innen, Therapeut:Innen… weiterhin ihre spezifischen Fachsprachen und Fachkenntnisse einsetzen. Aber mittels der ICF soll es auch eine gemeinsame Sprache geben, die den Austausch untereinander erleichtert. In manchen Fällen wird aber auch eine „doppelte“ Kodierung notwendig sein: sowohl in der Fachsprache als auch in der gemeinsamen Sprache für ALLE.
Im Konkreten:
Die ICF ersetzt nicht die berufsspezifischen Fachsprachen, ergänzt jedoch diese hochkomplexen Kodes durch eine gemeinsame Sprache.
7. Beim Durchblättern der ICF fiel mir die hohe Sprache Komplexität und schwere Verständlichkeit auf. Sollte eine gemeinsame Sprache nicht einfacher sein?
Diese Beobachtung ist korrekt. Die ICF in ihren Originalversionen stellt mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst eine sehr hohe sprachliche Herausforderung (und somit eine potentielle Umweltbarriere) dar.
Aus diesem Grund ist es auch wichtig, die Philosophie der ICF in eine verständliche (familienfreundliche) Sprache zu übersetzen: Beispiele dafür finden Sie (unentgeltlich downloadbar unter: https://icf-school.eu/images/outputs/o2/icf_brochure_de.pdf
Gerade in der gemeinsamen Arbeit mit Eltern ist darauf zu achten, dass die ICF als „gemeinsames Dach“ verständlich bleibt.
Im Konkreten:
Die ICF in ihren Originalversionen wirkt sperrig und schwer verständlich. Nutzen Sie die Möglichkeit von alltagsorientierten Anpassungen (auch www.thefirst1000days.net)
8. Gibt es eine richtige Umsetzung der ICF?
Leider oder glücklicherweise nein. Die ICF selbst beschreibt, mit Ausnahme ihrer ethischen Richtlinien kaum, wie sie konkret umgesetzt werden soll. Daraus resultieren eine Unmenge von Anwendungsansätzen und/oder Formularen.
Die Anwendungen müssen dabei an jeweilige Kontexte (KITA, Schule, Tagesstätte, SPZ, Frühförderstelle…) angepasst werden. Die Philosophie der ICF (die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, der Fokus auf Teilhabe…) müssen dabei Berücksichtigung finden und das Ganze soll auch noch sinnvoll (ökonomisch) umsetzbar sein.
Im Konkreten:
In der Umsetzung erscheint wichtig, dass die Grundphilosophie der ICF erkennbar bleibt.
9. Ist die ICF, die von der Weltgesundheitsorganisation erlassen wurde, nicht zu medizinisch orientiert?
Es ist zutreffend, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die ICF (neben anderen Kategorisierungssystemen) entwickelt und verabschiedet. Hinter der ICF steckt jedoch ein funktionales Verständnis von Gesundheit, d.h. mit dem Fokus, was ein Mensch (alterstypisch) in relevanten Kontexten tut, tun kann oder will. D.h. ein solch funktionales Verständnis (das in manchen Ländern zu funktionalen Analysen führt) umfasst im Gesundheitsverständnis auch andere Aspekte (z.B. Teilhabe), die historisch anderen Sektoren als dem Gesundheitswesen zugeordnet waren (z.B. Bildung und Erziehung oder Soziales).
D.h. auch wenn die WHO die ICF lanciert, bedeutet das nicht, dass alles der Medizin untergeordnet wird, weil das Ziel die funktionale Gesundheit ist (d.h. das Teilhabenkönnen an relevanten Lebenssituationen)
Im Konkreten:
Die ICF vertritt trotz ihrer Herkunft aus der „Wiege“ der WHO ein bio-psycho-soziales Modell, das „Gesundheit“ sehr viel weiter versteht als nur auf medizinische Belange reduzierbar.
10. Müssen wir bei der Verwendung der ICF kodieren?
Nein, die Verwendung der ICF in unterschiedlichen Settings erfordert nicht per se die Verwendung von Kodes. Vielmehr wirken die Kodes der ICF für viele Fachkräfte abschreckend, da sie sich kaum vorstellen können, dass jemand mehr als 1400 Kodes in irgendeiner sinnhaften Weise verwenden könnte.
Die Kodes sind in statistisch-epidemiologischen Studien interessant. Solche werden jedoch in der Regel nicht von Unterstützung- oder Therapie anbietenden Institutionen durchgeführt.
Im besten Fall könnte angedacht werden, einzelne Teilhabeziele (zur einfacheren Evaluation) zu kodieren, damit nach Interventionsmaßnahmen „Äpfel mit Äpfeln“ verglichen werden.
Im Konkreten:
Kodieren ist bei der Verwendung der ICF kein MUSS und nicht NOTWENDIG. Wichtiger ist es, die Philosophie der ICF (so einfach wie möglich für die jeweilige Institution) umzusetzen.
11. Die Unterscheidung zwischen Körperfunktionen und Teilhabe ist bisweilen schwierig. Gibt es Hinweise zu einer einfacheren Unterscheidung?
Körperfunktionen sind elektrophysiologische, physische, chemische, neuronale oder humorale Prozesse im Körper. Bei vielen Körperfunktionen ist das leicht verständlich:
Sehen beruht auf physikalischen und elektrochemischen Prozessen, unterschiedliche Körperstrukturen betreffend: das Durchdringen der Linse, das Auftreffen auf der Netzhaut, die Umwandlung in elektrische Impulse…
Vergleichbar dazu können das Atmen, der Herzkreislauf, die Verdauung, die Muskelanspannung verstanden werden. Dies stellt im Regelfall kein Verständnisproblem dar.
Schwieriger ist dies bei den MENTALEN Funktionen (die nicht immer auf dem ersten Blick als elektrochemisch, physiologische etc. Aspekte angesehen werden könnten: z.B. was Körperfunktionen wie „Extraversion, Offenheit für Neues, Bindung, Steuerung der Emotionen…“ betrifft.
Viele Aspekte finden sich hier (auch sprachlich vergleichbar) in der Teilhabe:
Die Körperfunktionen kennen die „Funktion der Aufmerksamkeit (b140“), die Teilhabe kennt „Aufmerksamkeit lenken“. Das mag verwirrend sein. Körperfunktionen stellen in der Regel zeitlich und situativ überdauernde Konstrukte dar, die theoretisch „ohne Kontexte“ – meistens mittels TESTS oder LABORWERTEN gemessen werden könnten. Theoretisch deshalb, weil auch jede Blutdruckmessung in einem jeweiligen KONTEXT erfolgt.
Teilhabe bezieht sich auf jeweiliges (sinn- und zielorientiertes) Verhalten in einem sozialen Kontext. D.h. wenn ich in einem Aufmerksamkeitstest eine „reduzierte Aufmerksamkeit“ aufweise, wird sich dies in der Teilhabe am Unterricht wahrscheinlich durch Ablenkbarkeit wiederspiegeln.
Im Konkreten:
Gerade bei Diagnosen, die in der Regel aus der Beschreibung funktionaler Abweichungen bestehen, sollte der Zusammenhang zwischen Körperfunktionen und Teilhabe jeweils reflektiert werden.
Und: Förder- und Behandlungspläne sind keine Seminararbeiten. Es geht um die sinnhafte Anwendung der ICF und nicht, was jetzt 100% korrekt sein könnte: z.B. welche Art der Behandlung evidenzorientiert ist, eine funktionale z.B. mittels pharmakologischer Begleitung) oder eine teilhaborientierte (mittels Anpassung der Lernanforderungen).
12. Wie viele Teilhabeziele erscheinen sinnvoll?
Auch auf diese Frage gibt es keine eindeutigen wissenschaftlichen, wohl aber pragmatische Antworten: Im Regelfall können sich sowohl Eltern als auch Fachkräfte kaum mehr als 3 bis 4 Ziele (für einen gesamten Förderzeitraum) merken. Deshalb macht es aus gedächtnispsychologischer Sicht Sinn, nicht übermäßig mehr Ziele gemeinsam zu formulieren.
Im Konkreten:
Formulieren Sie gemeinsam im Team um die Familie nicht mehr als 3 bis 4 Ziele pro Förderzeitraum.
13. Sollen wir im multidisziplinären Team gemeinsame Ziele formulieren?
Ja, sobald unterschiedliche Fachkräfte – gemeinsam mit den Eltern in einem Team um die Familie mit der ICF arbeiten – macht es Sinn, jeweils gemeinsame (Teilhabe)ziele zu formulieren und nicht sosehr berufsspezifische.
Die jeweiligen methodischen Vorgangsweisen, diese Ziele zu erreichen, mögen dann von Berufsgruppe zu Berufsgruppe unterschiedlich sein: d.h. die Logopädin arbeitet mittels ihres logopädischen Methodenrepertoires, genauso wie die Ärztin mit ihrem usw.
Im Konkreten:
Teilhabeziele sollen koordiniert im Team (aus der Sicht des Kindes) formuliert werden
14.Was bedeutet fähigkeitsorientierte Beschreibung
Die ICF kann dazu dienen, Beobachtungen verschiedenen Kategorien (der Umwelt, den Körperstrukturen, Körperfunktionen oder der Teilhabe) zuzuordnen. Um nicht in die tendenziell defizitorientierte Symptombeschreibung der ICF „zurückzufallen“, lässt sich aus der ICF ableiten (wenn auch in der ICF selbst so nicht explizit formuliert), dass das komplexe Zusammenspiel jedes Menschen zwischen seiner Persönlichkeit, der Umwelt, den Körperstrukturen und –funktionen sowie seiner Teilhabe primär beobachtungsorientiert beschrieben werden soll.
Das bedeutet, dass primär auf Beurteilungen, Bewertungen sowie Interpretationen Beobachtungen betreffend verzichtet werden soll.
Hintergrund ist einerseits, dass es in der Regel leichter ist, sich über BEDOBACHTUNGEN auszutauschen als über Beurteilungen und Interpretationen. Letztere sind häufig von subjektiven WERTVORSTELLUNGEN begleitet, sodass Wertekonflikte resultieren.
Daneben zielt die ICF darauf ab, individuelle Fähigkeiten eines Menschen (auch mit einem Gesundheitsproblem) zu „feiern“ (hervorzuheben) um den Fokus vom Defizit zu individuellen Fähigkeiten einzuleiten. Das bedeutet kein „Schönreden“ von Entwicklungsschwierigkeiten, aber einen primären Fokus darauf, was ein Mensch kann und nicht sosehr, was ein Mensch nicht kann.
Im Konkreten
Checken Sie (gegebenenfalls im Team), inwiefern Ihre Beobachtungssätze so weit wie möglich wert- und interpretationsfrei sind. Das ist nicht immer einfach.
15. Ist eine beobachtungsorientierte Vorgangsweise immer möglich. Gibt es Grenzen?
Es ist natürlich im Rahmen personzentrierter sowie ressourcenorientierter Vorgangsweisen das Ziel, sich Menschen (in Darstellungen) mittels Beobachtungssätzen zuzuwenden. Teilweise stößt dies jedoch auf sprachliche und ökonomische Grenzen. Eine Hypertonie beobachtungsorientiert zu beschreiben mag in einer einseitigen A4-Darstellung „ausufern“. D.h. es mag spezielle Aspekte der Darstellung geben, in denen aus ökonomisch-sprachlichen Gründen implizit Interpretationen oder Bewertungen eingeschlossen sind.
Im Konkreten:
Vor allem im Bereich neuromuskulärer Funktionen kann es bisweilen aus sprachökonomischen Gründen sinnvoll sein, Fachinterpretationen wie „Hypotonie“, Hypertonie“, „ataktische Bewegungen“ ausufernden Beschreibungen vorzuziehen.
16. Ist die ICF ressourcen- bzw. stärkenorientiert?
Die ICF selbst verwendet die Begriffe „Ressourcen“, „Stärken“ oder „Resilienz“ nicht explizit. Ressourcenorientierung kennt „Förderfaktoren “im Bereich Umweltfaktoren. Auch im Bereich personbezogener Aspekte können persönliche Interessen oder Stärken (genauso wie Abneigungen etc..) angeführt werden.
In den Bereichen Körperstrukturen, -funktionen oder Teilhabe kennt die ICF diese Beurteilungen. Im besten Fall ist auf der Basis der WHO Beurteilungsmerkmale „KEIN PROBLEM“. Dies bedeutet, dass eine Fähigkeit alterstypisch ist, nicht aber z.B. dass sie eine besondere Kompetenz sei. Dies wird bisweilen in der Pädagogik kritisiert, da pädagogische Konzeptbildung besonderer Fähigkeiten oder Stärken somit in der ICF nur teilweise abgebildet werden kann.
Über die Verwendung von WHO-Beurteilungsmerkmalen (sofern diese verwendet werden) können nichtsdestotrotz im Rahmen narrativer Einschätzungen durchaus besondere Stärken hervorgehoben werden.
Im Konkreten:
Auch wenn die ICF mit Ausnahme der Umweltfaktoren als Förderfaktoren die Begriffe „Stärken“ oder „Ressourcen“ nicht explizit verwendet, können individuelle Stärken durchaus bei personbezogenen Aspekten aber auch in der narrativen Beurteilung der Gesamtsituation berücksichtigt werden.
17. Wohin gehören Begriffe wie Anamnese oder Sozialanamnese?
Die ICF benennt diese Begriffe nicht explizit.
Implizit umfassen personbezogene Aspekte die eigene LEBENSGESCHICHTE. D.h. anamnestische Informationen (was bislang in Bezug auf eine Gesundheitssorge relevant sein könnte), können sinnvoll unter dem Oberbegriff „personbezogene Aspekte – Lebensgeschichte“ einbezogenen werden.
Auch der Begriff der Sozialanamnese wird in der ICF nicht explizit erwähnt. Inhaltlich spaltet sich dies einerseits in den oben genannten Aspekt der Anamnese, aber auch der gegenwärtigen Umweltsituation.
Im Konkreten:
Praktisch kann dies bedeuten, relevante sozialanamnestische Daten entweder der LEBENSGESCHICHTE zuzuordnen (woher die Eltern stammen, welche Personen in der Vergangenheit für ein Kind wichtig waren). Oder aber der jetzigen Umweltsituation: dies betrifft die Einkommenssituation, die Wohnsituation, die Verfügbarkeit von Bezugspersonen…
18. In welchem Verhältnis stehen durchgeführte Tests und Untersuchungen mit der ICF?
Pädagog:Innen führen Lese-Rechtschreibstests durch, Psycholog:Innen Intelligenztests, Ärzt:Innen Laboruntersuchungen etc…. Wie können diese Ergebnisse mit der ICF in Einklang gebracht werden.
Vorweg: Der Großteil der Messverfahren stammt aus Zeiten vor der ICF, sodass die verwendeten Begrifflichkeiten bisweilen nur mit Mühe in Einklang gebracht werden können. Bei einzelnen selektiven Verfahren (Blutdruck, Hormonstatus, Atemvolumen, Muskeltonus etc.) sind Zuordnungen in der Regel einfach, da die erhobenen Konstrukte terminologisch mit einzelnen Items der ICF übereinstimmen.
In diesem Fall können Testergebnisse in der Regel direkt den einzelnen Gesundheitskomponenten oder Items zugeordnet werden.
D.h. Lese-Rechtschreibtests, die darauf abzielen, Körperfunktionen zu messen (d.h. nicht das situative Lesen im Hier- und Jetzt, sondern die generelle Lesefähigkeit) können z.B. höheren kognitiven Funktionen
Schwieriger wird es bei „Breitbandtests“, die unterschiedliche Bereiche bzw. Komponenten vorgeben zu messen: Dies betrifft z.B. „Entwicklungstests“. Hier müssen Sie als Fachkraft im Detail entscheiden, zu welcher Gesundheitskomponente ein Entwicklungsbereich eines Tests am besten passt (z.B. der ET6-6). Manchmal wird es auch auf Itemebene notwendig sein, Zuordnungen zu treffen.
Im Konkreten:
Viele (vor allem im medizinischen Bereich durchgeführte) Tests können selbsterklärend einzelnen ICF Bereichen oder Items zugeordnet werden. Im Bereich pädagogischer und psychologischer Verfahren ist diese Zuordnung nicht immer ganz einfach, da die meisten psychologischen und/oder pädagogischen Erhebungsverfahren nicht zwischen Körperfunktionen und Teilhabe unterscheiden. Fragen Sie sich, ob der Test eher aktuelles Verhalten (=Teilhabe) oder zeitlich und situativ stabile Verhaltensmuster (=eher Körperfunktion) misst.
19. Wie kann ich die WHO Beurteilungsmerkmale verwenden?
Die WHO-Beurteilungsmerkmale dienen dazu, den Schweregrad eines Problems, das Ausmaß einer Teilhabebeeinträchtigung oder die Qualität der Umwelt (als Förderfaktor oder Barriere) zu beurteilen. Über die wissenschaftliche Aussagekraft dieser von der WHO vorgeschlagenen Merkmale gibt es bislang noch keine Einigung. Einige Expert:Innen sehen darin qualitative Aussagen (vor allem aus der Sicht der Betroffenen), andere verknüpfen dies (z.B. auch im Rahmen gesetzlicher Vorgaben) mit Ansprüchen an Hilfeleistungen (dass z.B. eine erhebliche Teilhabebeeinträchtigung zum Erhalt von Leistungen vorliegen müsse). Für Fachkräfte in unterschiedlichen Settings stellt dies häufig nur eine zweitrangige Frage in der Förderplanung dar, da die Zuerkennung von Leistungen (und somit die Beurteilung einer Gesamtsituation) bereits im Vorfeld durch andere Expert:Innen erfolgte. Bisweilen „schwindeln“ sich Fachkräfte gerne über die Frage der Einschätzung und Beurteilung, indem Sie direkt aus ihren Beobachtungen Teilhabeziele ableiten. Dass sie gleichzeitig implizit ihre Beobachtungen BEURTEILEN und BEWERTEN wird dabei gerne ein wenig zur Seite geschoben. Die ICF lädt ein, sowohl BEOBACHTUNGEN als auch BEURTEILUNGEN transparent zu machen.
Im Konkreten:
Scheuen Sie sich nicht, auf der Basis Ihrer Beobachtungen auch Ihre Beurteilungskriterien (d.h. den Vergleich zur alterstypischen Teilhabe) transparent und nachvollziehbar zu machen. Meist wissen und spüren Eltern ganz genau, dass Beeinträchtigungen vorliegen (andernfalls würden sie kaum Hilfe suchen oder in Anspruch nehmen).
Gerade im Rahmen gesetzlicher Ansprüche auf Lesitungen muss meist zwingend eine (beurteilte) Teilhabebeeinträchtigung vorliegen, sodass daraus zielorientierte Behandlungs- und Förderprozesse resultieren.
20. Wo kann ich unterstützende Materialien und Ressourcen zur ICF finden
Eine Vielzahl von unterstützenden Materialien zur Verwendung der ICF sind verfügbar:
Dies umfasst Materialien der WHO (meist auf Englisch), EU-projektbezogene Ressourcen (www.icfcy-meduse.eu, www.icf-school.eu, www.thefirst1000days.net, www.inclusion.net, bis hin zu Ressourcen wie BfArM - ICF - ICF-Projekte im deutschsprachigen Raum, den Rehadat-Lotsen REHADAT-ICF-Lotse oder einzelne Coresets.